In Brasilien hat sich die Zahl der Menschen in moderner Sklaverei verdoppelt

Vor allem Agrarindustrie betroffen. Großer Anstieg der Zwangsarbeit in privaten Haushalten. 57.000 Menschen seit 1995 aus der Sklavenarbeit befreit

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Unter dem Hashtag #SomosLivres (Wir sind frei) wird immer wieder auf soziale Aktionen gegen Sklavenarbeit aufmerksam gemacht
Unter dem Hashtag #SomosLivres (Wir sind frei) wird immer wieder auf soziale Aktionen gegen Sklavenarbeit aufmerksam gemacht

Brasília. Die Sklavenarbeit nimmt in Brasilien weiter zu. Allein im letzten Jahr hat das Ministerium für Arbeit 1.937 Menschen aus sklavenähnlichen Bedingungen befreit. Dies ist ein neuer Höchststand seit 2013 und ein Anstieg um 106 Prozent zum Vorjahr. Vor allem die Agrarindustrie unterwirft Menschen der Zwangsarbeit. So haben 89 Prozent der Betroffenen in ländlichen Gebieten in sklavenähnlichen Verhältnissen gearbeitet. Allein 310 Personen in der Kaffeeproduktion.

Aber auch in privaten Haushalten gibt es Sklavenarbeit. Im letzten Jahr sind 27 Frauen daraus befreit worden. Luiza Batista, Präsidentin des Nationalen Verbands der Hausangestellten, mahnt, dass diese Zahl nicht unterschätzt werden sollte. Das ist den Angaben des Arbeitministeriums zufolge ein Anstieg um 1.350 Prozent innerhalb der letzten fünf Jahre. "Die Zahl ist immer noch sehr unbedeutend im Verhältnis zu dem, was tatsächlich im Lande geschieht", erklärte sie. "Viele Arbeiterinnen kommen aus dem Landesinneren, sie sind minderjährig. Die Mädchen folgen dem Versprechen, dass sie Arbeiten und Studieren werden. Aber dann ist nichts so. Das Studium existiert nicht, und die Bezahlung bleibt nur ein Versprechen."

Der enorme Anstieg an geretteten Personen ist vor allem durch die Zunahme von Kontrollen im vergangenen Jahr zu erklären. Das brasilianische Institut für Geografie und Statistik zeigt auf, dass 6,2 Millionen Brasilianer:innen als Hausangestellte arbeiten. Davon haben jedoch nur 28 Prozent eine tatsächliche Anstellung. 92 Prozent der Opfer von häuslicher Sklaverei sind Frauen und 68 Prozent sind Personen, die sich als Schwarz bezeichnen.

Die aktuelle Regierung unter Jair Bolsonaro und die vergangene des De-facto-Präsidenten Michel Temer haben versucht, die Bekämpfung der Sklavenarbeit zu bremsen. Temer versuchte, die Definition der Zwangsarbeit auf die Verletzung des "freien Kommen und Gehen" zu reduzieren. Der Oberste Gerichtshof Brasiliens (STF) hielt dagegen. So gelten die Bestimmungen der Schuldknechschaft, Erschöpfung durch lange Arbeitszeiten und erniedrigende Arbeitsbedingungen immer noch als sklavenähnliche Zustände (amerika21 berichtete). Auch die Arbeit der Inspekteur:innen der Arbeitsministerien wurde während der Regeirungen Bolsonaro und Temer erschwert. Beide haben die öffentlichen Mittel für Maßnahmen zur Kontrolle der Zwangsarbeit gekürzt.

Insgesamt wurden seit 1995 57.000 Menschen aus der Sklaverei befreit. In Brasilien ist Sklavenarbeit seit 1888 verboten. Jedoch besteht das koloniale Erbe weiter fort. Vor allem Kindern und Jugendlichen aus ärmeren Familien wird versprochen, dass sie einen besseren Lebensstandard und höhere Bildung erfahren werden. Die Realität sieht jedoch anders aus. Statt Schulbildung zu erhalten, geraten die Kinder in die häusliche Sklaverei und werden für ihre Arbeit im Haushalt mit Nahrung, Kleidung und Unterkunft bezahlt. Getarnt wird die Aufnahme der Kinder meist unter dem Mantel der Adoption. Hierfür gibt es einen speziellen Namen: "Adoção de má fé" (Adoption in schlechter Absicht).

Obwohl die Sklaverei nach Artikel 149 des brasilianischen Strafgesetzbuches verboten und unter Strafe gestellt ist, werden kaum Fälle von häuslicher Sklaverei bekannt. Das Menschenrechtsnetzwerk SER-DH erklärt die Gründe hierfür: Viele der Betroffenen würden ihre Rechte nicht kennen und seien abhängig von den Familien. Das Thema Dankbarkeit spiele eine besonders große Rolle. Jedoch soll es auch für Außenstehende nicht immer leicht sein, Fälle von häuslicher Sklaverei zu entdecken. So werden die Betroffenen oft versteckt gehalten und ihnen wird verboten, Kontakt zu Nachbar:innen oder anderen Personen zu haben.

Der Fall Madalena wurde Ende letzten Jahres prominent in Brasilien. Madalena Gordiano wurde am 27. November 2021 im Alter von 46 Jahren aus der häuslichen Sklaverei gerettet. Ihre Geschichte steht symbolisch für die Erlebnisse vieler häuslicher Sklav:innen. Madalena wurde im Alter von acht Jahren, unter dem Vorwand der Adoption und besserer Schulbildung, von einer Lehrerin in die Familie geholt. Die versprochene Adoption hat nie stattgefunden. Madalena durfte nie in die Schule gehen, durfte nicht mit Nachbar:innen reden und keine weiteren Kontakte haben. Stattdessen musste sie häusliche Arbeit verrichten und wurde mit dem Überlebensnotwendigen bezahlt.

Sie erhielt keinen Lohn, keine freien Tage und schlief in einem kleinen Zimmer ohne Fenster. Zudem wurde sie in jungen Jahren mit einem 78 jährigen Mann verheiratet. Dieser erhielt zu Lebzeiten eine der höchsten Renten in Brasilien. Nach seinem Tod hätte das Geld Madalena zugestanden. Die Familie hat es aber genutzt, um das Medizinstudium der "eigenen" Tochter zu finanzieren. Durch Mithilfe eines Bewohners des Hauses konnte Madalena befreit werden. Wie sie später erfuhr, ereilte ihre Zwillingsschwester ein ähnliches Schicksal.